Im Jahre 1713 kamen die Schweden über den Sund und brachten den Krieg. Die Zeit lastete schwer auf dem Land. Das Heer der Feinde nistete sich in allen Städten und Gehöften ein und gebärdete sich in frecher Art, als ob Ihm alles eigen wäre, was sich mit Händen greifen ließ
Nicht weit von Husum lag der Gutshof des alten Andreas Flor, der hier mit seiner reizenden kleinen Enkelin Martje hauste. Der Hof war ein Muster an Ordnung, die Felder waren vorbildlich bestellt, die Kühe glänzten. Auf diesem Hof quartierte sich der junge Schwedenprinz Oskar ein, mit bunten Offizieren und Soldaten. Die Herren benahmen sich so ungezügelt, sie ließen sich die besten Ferkel und das beste Geflügel schlachten und holten sich die leckersten Schinken aus dem Rauch. Sie durchzechten lärmend manche Nacht, gingen unvorsichtig mit brennenden Kerzen und brennenden Pfeifen um, und der alte Flor, der mit schwerbekümmertem Haupt daher schritt und dem unwillkommenen Besuch noch zu Willen sein musste, war froh, wenn ihm sein Haus nicht durch die Leichtsinnigkeit seiner Gäste in Flammen aufging.
Der Winter war streng, die Rosenstöcke erfroren in den Gärten, und alles schimmerte im silbernen Schnee. Die schwedischen Herren verbrachten die Abende zumeist bei dampfendem Punsch, und die Gemüter erhitzen sich. Man lachte, sang, lärmte, schlug mit der Faust auf den Tisch und erzählte übermütige Kriegsgeschichten. Sobald es dunkelte, wurde in steinernen Krügen der Punsch gebraut, immer wieder rann er durch die rauen Kehlen der Krieger.
Eines Abends, gegen Mitternacht, schritt der alte Flor sorgenvoll durch das Zimmer, in dem der Prinz mit seinen Offizieren saß. Der älteste Offizier stand auf, trat vor den Alten hin, reichte ihm ein volles Glas und sprach: „Nehmt hin und trinkt auf das Wohl unseres erlauchten Königs und seines tapferen Heeres!“
Der gebeugte Alte nahm das Glas und schwieg. „Spute dich, Mann“, rief der Offizier und hob die ballte Faust in die Luft. Der Alte sah vor sich hin, das Glas bebte in seiner Hand. Er wusste, wenn er nicht gehorchte, war er verloren. Und doch konnte er nicht. Ihm war, als ob er die Flügel des Schicksals rauschen hörte.
Da schwebte plötzlich etwas wunderbar Lichtes und Leichtes durch die geöffnete Tür in das Zimmer. Es war die schöne kleine Martje in rosafarbenem Kleid; sie kam lächelnd und zärtlich wie ein Schimmer der Morgenröte, und alle blickten verwundert auf sie hin.
Sie trat vor ihren Großvater, nahm ihm das Glas aus der Hand, hob es dem schwedischen Offizier entgegen und sagte mit ihrer süßen, kleinen bezauberten Stimme:
„Op dat es uns wohl ergehe op unse o l e n D a g e l“
Sie führte das Glas an ihren zarten Mund, trank einen Tropfen und stellte es zurück auf den Tisch; dann machte sie einen kleinen Knix, fasste ihren Großvater bei der Hand und verließ mit ihm das Zimmer.
Die Stimmung unter den Zechenden war wie umgewandelt. Man sah sich mit erstaunten Blicken an, griff zögernd nach den Gläsern und trank schweigend.
„Welch ein entzückendes Kind!“, murmelte der Prinz vor sich hin. Seine Blicke hafteten lange gebannt an der Tür, hinter der die holde Erscheinung verschwunden war.
Kurze Zeit darauf verließen die Schweden das Land. As Prinz Oskar abritt, reichte er der kleinen Martje einen Säckel, gefüllt mit Goldstücken, damit ihr Großvater seinen Hof wieder in den alten Wohlstand versetzen konnte. Er ließ sich das Kind in den Sattel hinaufheben und gab ihm einen Kuß auf die Stirn.
Einige Jahre später kam er zurück und nahm eine Wohnung in Husum. Er ritt nach dem Flor’schen Hof hinaus, sah Martje wieder und plauderte und lachte mir ihr, die nun eine schön erblühte Rose war. Jeden Nachmittag sah man Prinz Oskar auf der Landstrasse nach dem Marschhof hinausreiten. Jeden Nachmittag saß er mit Martje auf der Bank vor dem Hause, und eines Tages, als die Sonne gerade glutrot hinter einer goldumrandeten Wolkenschicht unterging, legte er vertraulich seinen Arm um ihre Schulter und küsste sie, wie schon einmal, aber diesmal auf die Lippen. Er warb um sie bei ihrem Großvater, nahm sie mit nach Stockholm, und Martje Flor wurde eine der schönsten Prinzessinnen von Schweden.
Martje Flor, eine Geschichte von Hans Bethge